Boulevard Backfire

Gut, ich bin naiv, und das gern, aber es ist wirklich schlimmer, als ich dachte – die eigentliche Story ist: Kommt ein schwerkranker Mann zum Arzt, geht mit schlechter Prognose wieder weg und schreibt sicherheitshalber (primär für seine Töchter) ein vergleichsweise smartes philosophisches Buch. Kann man prima lesen, wie sich zeigt. (Danke für die viele schöne Post). Macht klüger, glücklichlicher, entspannt – und ggf. gesünder.

Aber die Leute, diese „Leute“ schließen von sich auf andere. Und das geht dann so: Wenn ich zum Arzt geh, will ich ein Medikament, keine ganzen Sätze. Ich will nicht zuhören. Und auch nicht selber denken. Oder selber was machen. Ich will´s simpel, kurz, sofort und von außen: Ich will´n Wundermittel. Auf Rezept. (Ohne Zuzahlung).

Sind diese Leute dann beim Fernseh, beim Funk oder bei ner Zeitung, hören sie nur: „War´n Mann beim Arzt, vollfieskrank, gelähmt und ruiniert, ist weggegangen, ist nicht gestorben, lebt immer noch. Spielt sogar wieder Tennis. Toll! Wie heißt das Mittel!?“

Das ist wirklich anstrengend, Leute. Nix für ungut. Ihr verwechselt Genesung mit Gesundung, „überleben“ mit „Wunderheilung“, „Sinn“ und „Zweck“: ihr wollt das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele in einem Wort erklärt haben, und das Wort soll gefälligst ein Medikamentenmarkenname sein. Sprich: sogar die allereinfachsten Antworten sind euch inzwischen zu kompliziert, bestehen sie doch – zugegeben – aus mehreren zusammenhängenden Sätzen.

Ich weiß nicht, was ich da noch machen soll. Oder sollte. Außer keine Funk-Fernseh-Print-Antworten mehr zu geben. (Wozu auch. Im Buch stehen ja notfalls alle wesentlichen. Und für alle Sparfüchse: gratis auf der Seite. Ohne Zuzahlung. Aber Obacht: Zusammenhänge. Viele Sätze. Die meisten mit sogar mehr als zwei Wörtern.)

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Med men

Gut gemeint, British Medical Journal (= immerhin einflußreichste Publikationsfläche der englischsprechenden Medizinwelt): dein frührer Herausgeber Richard Smith und Peter Gotzsche (Cochrane Center) fordern mit Nachdruck: Fachjournale sollten von der Pharmaindustrie finanzierte (= und damit nachweislich im großen Stil manipulierte) Studien ab sofort überhaupt nicht mehr veröffentlichen. Smith´ Begründung ist ebenso britisch wie logisch: das BMJ veröffentlicht ja auch keine Studien mehr, die von der Tabakindustrie gesponsert werden.

Fiona Godlee, derzeitige BMJ-Chefredakteurin, hat sich jüngst den Kritikern um Smith, Gotzsche und -> Ben Goldacre angeschlossen und droht gar mit der Selbstvernichtung des BMJ, sollte es nicht zur längst fälligen Wende im durch und durch manipulierten Studienzirkus kommen, aber so weit werden die wackeren Briten natürlich nicht gehen, auch wenn sie´s eigentlich müssten.

Und hierzulande? Ist das Ganze weder ein Thema noch eine Diskussion wert. Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, stellt gegenüber Medscape klar: „Die Vorschläge, von der Pharmaindustrie finanzierte Studien nicht mehr zu publizieren, sind unrealistisch – vor allem, da sie teilweise auf Daten basieren, die schon einige Jahre alt sind, und aktuelle Entwicklungen (z.B. EU-Verordnung über klinische Prüfungen) nicht berücksichtigen.“

Niedlich. Da kennt er offenbar weder Goldacre noch Walter/Kobylinski noch sonst irgendwelche relevanten Fakten, aber das muss er ja auf seinem Posten auch nicht. Und der deutsche Patient darf sich wieder hinlegen: „Die Spritzschwester kommt gleich und bringt was Beruhigendes (klinisch getestet)“.

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Jetzt komm, Klima: ist doch besser als nix!

Die Ergebnisse dieser jüngeren Studie klingen doch … na, immerhin! Zweistellig! Satte 14,5% der Befragten und Untersuchten* geben an, ihr Leben Ihrem Verständnis der Gesamtproblematik angemessen zu führen resp. geändert zu haben. Lediglich die verbleibenden 85,5% tun nichts dergleichen – wobei nur ein kleiner Teil (20% der Gesamtheit) meint, es gebe gar kein Problem, also keinen vom Menschen verursachten Klimawandel. Der große Rest sind die „stealth deniers“, also die verdeckten oder heimlichen Leugner, die eines entscheidend gemeinsam haben: Sie „erkennen ihre individuelle moralische Verpflichtung zum Handeln, leben aber einfach so weiter, als gäbe es diese Verpflichtung nicht.“

Das Kleingedruckte ist dann fast egal, denn die Unterteilung der schweigenden Mehrheit in „ist mir persönlich nicht so wichtig“, „war ich nicht“ oder „kann ich sowieso nicht ändern“ darf als akademischer Spielkram unter den Tisch fallen und dort bleiben. Die Wahl endet jedenfalls mit einem Erdrutsch, sprich einer absoluten Mehrheit von 85,5% für eine Fortsetzung des eingeschlagenen Weges.

Wenn die 14,5% das wüssten, sprängen von denen garantiert auch noch mal 4,5% ab – und wer könnte es ihnen verdenken?

* lassen wir getrost unter den Tisch fallen, dass jene 2000 Untersuchten Briten sind – die nationalen Unterschiede dürften marginal sein, also vernachlässigenswert. Die Zusammenfassung der Studie und der Link zum kompetten Bericht finden sich bei Interesse hier.

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Mittelstand als Sitzenbleiber

Drei primäre Gründe nennt Professor Robert Reich, US-Arbeitsminister unter Bill Clinton, für das Ausbleiben der Revolution der Mittelschicht: Angst, Angst und Zynismus. Expliziter: die Angestelltenangst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes (die Konkurrenz ist groß, das Angebot nicht), die Studentenangst, gar nicht erst einen Job zu bekommen (in Südeuropa noch viel ausgeprägter zu beobachten als unter deutschen 21-unbezahlte-Praktika-Akademikern) – und den Zynismus aller, denn wir wissen ja längst: unsere Politiker sind ausnahmslos eben jene 4plus-Gestalten, die wir früher in der Pause auf dem Schulklo eingesperrt haben. Die können und werden ohnehin nichts ändern.

Die Mischung macht´s – tatsächlich. Stabil. Sitzend. Vergessen hat Reich lediglich Punkt 4, jedenfalls für uns Deutsche: Es kommt immer irgendwas Buntes mit Bohlen, Heidi oder Kommissaren aus der Dummbox, und alles gratis. Wer, bitte, wollte da noch seine Nase in die eigenen Angelegenheiten stecken? Solange noch was im Fernseh läuft, ist Apathie die Reaktion der Masse. Sobald die Kisten ausgehen, folgt aber leider die Alternative, und die heißt nicht „lasst uns mal drüber reden“.

Reich bringt auf den Punkt, was hierzulande kaum einer sagen oder hören mag: „Eine Reform ist weniger riskant als eine Revolution, aber je länger wir warten, desto wahrscheinlicher erleben wir Letztere.“ Diese Warnung ist allerdings nicht halb so spannend wie eine Kakerlake live im Bambusrock, also: sprechen wir uns nach dem Startschuß. Oder schießen einander einfach wortlos über den Haufen, weil wir die Alternative „sprechen“ gar nicht mehr kennen. (Aber seht euch vor, wenn ihr euch meine DVD-Sammlung holen wolllt. Meine Armbrust ist wesentlich größer als die von Darryl, und ich verwende auch nicht diese niedlichen kleinen Spitzen).

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Good Cop & very good Cop

Insiderwitz, unter schallendem Glucksen erzählt von smarten Private-Equity-Anlegerdiensten: die amerikanische Food and Drug Administration FDA hat die Zulassung für ein sagenhaft innovatives neues Produkt des israelisch-amerikanischen Pharmakonzerns Teva bekanntgegeben. Teva, Hersteller des einmal täglich zu injizierenden MS-Medikaments Copaxone, darf ab jetzt auch etwas ganz anderes verkaufen, nämlich: 3 x wöchentlich das gleiche, also Copaxone. Beziehungsweise: vorher war nur eine tägliche Injektion von 20 mg erlaubt, jetzt, neu – nach einer garantiert 100 Trilliarden teuren Studie – sind auch 3 x wöchentlich 40 mg erlaubt.

Klingt egal, ist´s aber nicht, denn die neue Dosierung ist patentrechtlich ein … na? Genau: neues Medikament. Das ist gut für Teva, denn Copaxone kostet den User (bzw. seine Krankenkasse) bummelig 12.000 Euro im Jahr, und der Patentschutz läuft im Mai aus. Da die Herstellungskosten längst scharf gegen Null gehen dürften (grob geschätzt, Teva hat meine diesbezügliche schriftliche Anfrage nie beantwortet, ich warte …), wird die tägliche Spritze danach sehr, sehr viel billiger.

Aber nicht die ganz, ganz neue. Also die gleiche wie vorher. Nur etwas dicker. Jene neue, die alle Patienten sich jetzt, zufällig gerade noch rechtzeitig vor dem Mai zugelassen, endlich seltener setzen dürfen. Erleichterung macht sich breit. Bei den Patienten, erst recht aber bei den Patenten, denn das ganz, ganz neue Produkt ist jetzt wieder patentrechtlich geschützt.

Bis 2030.

Die Teva-Aktie hat seit Jahresbeginn mehr als 10 Prozent zugelegt. Adam Riese (resp. A. J., merci) rechnet kurz nach und überschlägt: Bei einer Marktkapitalisierung von 38 Mrd.USD sind das mal eben schlappe 4 Mrd. USD plus für die Shareholder.

Dem Himmel sei Dank, dass FDA-Mitarbeiter unterbezahlte wackere Beamte sind und kein Geld zum Aktienkaufen haben.

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Der Neologismus zum Sonntag, 20 Jahre danach

Der tiefere Sinn des Labenz“ wird heute zum zirka 20sten Jubiläum der deutschen Erstausgabe von den radioeins-„Literaturagenten“ Gesa Ufer und Frank Meyer gewürdigt, und einer der Autoren darf ebenfalls was dazu sagen. Mir wär´s auch lieber gewesen, man hätte statt meiner den tief verehrten Douglas zugeschaltet, aber der Allerbeste funkt nun mal auf anderen Frequenzen. Gut, dass er unsterblich ist, aber doch katastrophal, dass er nichts Neues mehr schickt.

Der tiefere Sinn indes, auch der im Labenz, der bleibt. Auf ewig. Erfreulich. (Und sogar in beiden Varianten, also dt/dt und engl/engl, zwischen den Buchdeckeln).

Adams / Lloyd / Böttcher – Der tiefere Sinn des Labenz: Das Wörterbuch der bisher unbenannten Gegenstände und Gefühle  (Rogner & Bernhard Berlin, 312 S., 14.99 €)

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Kosmischer Stoff

Wer die „Kosmos-A-bis-Atom“-Quintessenz je vertiefen möchte, sei hiermit von meinem alten Freund L. (thx!) mit der Nase auf Brian Greene gestoßen, dessen 2009 erschienenes Buch „Der Stoff, aus dem der Kosmos ist“ ich wegen fehlender Lesebrille immer wieder zurück in den To-Do-Stapel geschoben hatte. Greene war aber unterdessen so nett, seine brillanten Zusammenfassungen aller kosmischen Zusammenhänge in 4 x 60 Dokumentationsminuten zusammenzufassen. Das Ganze ist wirklich elegant und aufwendig gemacht, vermittelt sich vermutlich sogar jüngeren Interessenten als unsereins, und dankenswerterweise spart Greene sich die wirklich harten Nüsse jeweils fürs Ende seiner 4 Kapitel auf. So fällt es einem leichter einzusehen, dass man vermutlich schon längst gestorben und Teil eines schwarzen Loches ist, von dessen Rand die Informationen über das, was man selbst grad für geschehend hält (sich selbst inbegriffen), als Hologramm durch die Raumzeit gestrahlt wird. Wer sich damit herausreden will, wenn er im Kaufhaus stümperhaft klaut, muss sich allerdings von einem nobelpreisverdächtigen Kaufhausdetektiv erwischen lassen.

Brian Greene – Der Stoff, aus dem der Kosmos ist: Raum, Zeit und die Beschaffenheit der Wirklichkeit (Polyband/BVG 2013; 4 x 60 Minuten, DVD ca. 18.99 im Fachhandel)

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