Sechs Stunden weg. Zwei Stunden tot. Getrennt vom eigenen, nicht mehr schlagenden Herzen, der Körperrest in Funktion gehalten von einer Maschine. Nach dem Erwachen und dem entsetzlichen Ziehen der Schläuche aus der Lunge Lähmung, Hilflosigkeit, nacktes Ausgeliefertsein der Willkür von Unbekannten, mit Kabeln, Schläuchen, Kanülen, Kathetern überall im Körper.
Ein Alptraum.
Zwei Meter links, hinter einem Vorhang, ein anderer, der ebenfalls
diesen Weg gehen musste, unsichtbar. Hörbar nur der Chirurg vor dem Bett des anderen,
im Gespräch mit einem Assistenten.
Der andere hatte nicht so viel Glück. Gleiche OP. Ist nicht
wieder aufgewacht, bis jetzt. 12 Tage danach. „Und nu?“ – „Keine Ahnung, die
Angehörigen melden sich nicht.“ – „Tja.“
Eine junge Frauenstimme, Schwesterlein, munter, ergänzt:
„Wir haben doch voll die Strähne. Mit der da nebenan sind jetzt schon 4 am
Stück wieder aufgewacht.“
Heiterkeit. Ja, prima.
Und rund um die Uhr NDR2 auf der Intensivstation. Und
schwere Parfüms.
Nennen wir die Patientin Frau K.. Ich nenne sie anders, aber
ich nenne sie generell nicht „meine Frau“, weil sie ja nicht mir gehört,
sondern sich selbst. Sie ist mir lieb und teuer, ich schätze sie, sie liegt mir
sehr am Herzen. Frau K. ist 50. Frau K. ist vor acht Wochen umgefallen und erst
nach einigen Minuten wieder aufgestanden. Frau K. hat wenige Tage danach
erfahren, dass sie hätte tot sein müssen, da sie einen Geburtsfehler hat. Ihr
fehlt eines von drei Segeln der Aortenklappe. Das hat ihr Körper lange mühsam
kompensiert, aber nun kann er das nicht mehr.
Bei einer prognostizierten Restlebenszeit von 6-8 Wochen bei
absoluter Bettruhe war rasches Entscheiden zwingend geboten. Die Kommunikation
der eventuell zuständigen Ärzte war indes strikt „mir doch egal“, erst nach energischem
Netzwerken und mehreren nervtötenden Interventionen des Gatten der Frau K.
erkennen andere Kardiologen und Herzchirurgen anderswo, freundlicherweise
schockiert, die absolute Dringlichkeit des Handelns.
Zwei Optionen stehen im Raum. OP #1, mittelschwer,
verlängert, so sie gelingt, das Leben der Patientin um 10 Jahre. Einmalig. Weitere
Operationen sind danach nicht möglich.
OP#2 ist die Mutter aller OPs (sieht man von der
Herztransplantation) ab. Brustbein durchtrennen und alles andere auch, Herz
aus, Herzlungenmaschine an, Herzklappe ersetzen und eine neue festnähen,
hoffen, dass die hält, Brustbein mit Draht umwickeln und wieder zusammenzurren,
12 Zentimeter Wunde zunähen. Und hoffen, 4 Wochen, ob es zum Leben reicht, dann
3 Monate, ob der Rindermuskel anwächst.
Das geflickte Herz hält, so es hält, mit etwas Glück bis zum
65sten. Danach ist eine weitere OP möglich. Mit einer Chance auf weitere 10
Jahre Leben. Dann ist Schluss.
Was tun? Mittelschwere OP und ggf. 60 werden? Oder schwere
OP + mittelschwere OP und ggf. 75 werden?
Die Wahl zwischen Pest und Cholera fällt auf #2. Schwere OP.
Die Patientin überlebt den Eingriff, sehr zur oben
geschilderten Freude der Schwester, „4 am Stück“, die nicht sterben, das ist
doch schon mal was.
Der nun folgende Alptraum hat viele Fratzen. Es soll aber
gar nicht die Rede sein vom wie erwartet eintretenden Grauen, vom Dämmern und
Aufschrecken zwischen Leben und Tod auf der Intensivstation, hilflos, reghlos zugedröhnt
bis zur Halskrause, immer wieder wegtretend und erwachend, umstellt von
besorgten Gesichtern, die auf stolpernde Maschinenanzeigen starren. Es soll
auch nicht die Rede sein von den Tagen auf der Zwischenstation und den Tagen
auf der personell gnadenlos unterbesetzten normalen Station, wohl aber von der Gesamtzahl
der Tage, die Frau K. in der Fallpauschalenklinik zubrachte.
Der zuständige Arzt legt der Patientin nach 8 Tagen nah, das
Haus zu verlasssen. Das Wochenende steht bevor, da passiert in der Klinik sowieso
nichts mehr. Die Patientin ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Lage,
allein aufzustehen, selbst unter Dauerschmerzmittelgabe sind die Schmerzen zu
groß. Der Draht sticht von innen. Schulter und Rücken schmerzen unerträglich.
Die Narbe schmerzt, innen wie außen. Das Herz stolpert mal, mal rast es. Sie
hat überdies noch etwa 10 Kilo Wasser im Körper, einiges davon auch in der
Lunge. Der Darm ist träge. Sie leidet überdies an einer postoperativen Anämie,
der vorher bei 14 liegende Hämoglobinwert ist auf 7 gesunken, die Patientin ist
grau. Trotz bestehender Lebensgefahr wird eine Bluttransfusion verworfen, denn
das würde die Lebensgefahr nur vergrößern.
Die Patientin ist weit davon entfernt, entlassungsfähig oder
gar „reha-fähig“ zu sein. Sie besteht darauf, das Wochenende noch im
Krankenhaus verbringen zu dürfen. Man gibt nach.
Am Montag wird sie, in unverändertem Zustand, entlassen.
Der Fall ist abgeschlossen. OP gelungen, Patientin lebt.
Ich habe mich in den Tagen danach gefragt, was aus der
Patientin geworden wäre, hätten deren Lebensumstände ein bisschen anders
ausgehen als die von Frau K. Was geworden wäre, hätte die Patientin beispielsweise
allein gewohnt, beispielsweise im dritten Stock, beispielsweise ohne Fahrstuhl.
Was geworden wäre, wenn die Patientin oder ihr Umfeld vielleicht nicht ganz so
bewandert gewesen wäre betreffend Blutwerte, Medikamentenwirkungen und
-wechselwirkungen. Wenn sie nicht bemerkt hätte, dass man ihr kein Kalium
mitgegeben hatte und auch keine Anweisung, dieses einzunehmen. Wenn sie ihren
Blutdruck zuhause nicht hätte kontrollieren können.
Dabei geht es nicht um entwürdigende Petitessen wie die,
dass fast jede Form von Körperpflege damit ausgefallen wäre (die Arme nicht
heben zu können, ist weniger egal als es klingt), auch nicht darum, wie man
resp. frau denn seine Notdurft im Liegen verrichten soll, tage-, wochenlang,
wenn man nicht aufstehen kann. Wie man sich versorgen soll oder versorgen
lassen soll vom Pizzaboten, wenn man nicht zur Tür kommt.
Fragt diese gedachte Frau die Nachbarn aus dem Erdgeschoß,
ob sie sie bitte mal waschen könnten?
Sicher, auch die hiermit ausgedachte Frau bemerkt wohl, dass
noch etwas anderes nicht stimmt als ihr Eigengeruch nach ein paar Tagen, aber bemerkt
sie dieses andere rechtzeitig? Dass ihr frisch zusammengenähtes Herz
schlappmacht wegen des als Magnesiumgegenpart fehlenden Kaliums? Oder bemerkt
sie, dass nicht nur ihr Puls rast, sondern auch die Diastole längst durch die
Decke gegangen ist, sie mithin dem Exitus verdammt nah ist? Ruft sie dann rechtzeitig
einen Krankenwagen? Und kommt sie noch rechtzeitig in der Notaufnahme an?
Falls ja – ist sie ein neuer Fall. Mit Herzrythmusstörungen
oder Schlimmerem. Auch dafür gibt es Pauschalen. Und so sie stirbt, stirbt sie eben
an Herzversagen. Mit dem abgeschlossenen ersten Fall hat das nichts zu tun, die
OP war ja ein voller Erfolg gewesen.
Natürlich ist das nicht das Ende der Geschichte, der Rest im
Schweinsgalopp: Kein niedergelassener Kardiologe hat Termine frei vor Dezember
für die Patientin – außer … die Frage fällt, natürlich, „sind Sie
privatversichert?“. Nein? Bedaure. Der ursprünglich den Herzfehler vermutet
habende Internist hat ebenfalls keine Termine frei, nicht mal zum
Verbandwechseln. Man quetscht die Kranke dazwischen. Eine Stunde Fahrzeit hin,
3 Stunden draußen warten, im Auto bei 34 Grad im Schatten, dann ein
6-Minuten-Termin. Keine Desinfektion der Hände oder der Wunde. Können Sie auch
selber machen. Wiedersehen. Die Krankschreibung füllt der Internist bei der
Gelegenheit falsch aus, er vertut sich um einen Tag. Die zuständige Kasse bemerkt
das, die Kündigung des Vertrages und der Wegfall aller Ansprüche drohen, da die
Krankschreibung nicht lückenlos ist. Ein Verweis auf die Auskunft des
zuständigen Mitarbeiters, bereits die Klinik habe die Patientin bis weit über
den nun neu geforderten Termin hinaus krankgeschrieben, geht ins Leere. Der
Mann war nur ein Urlaubsvertreter, seinen Namen hat man noch nie gehört.
Ich weiß. Was ich beschreibe, ist nicht originell.
Abertausende erleben diesen Alptraum oder vergleichbare täglich in unseren
Krankenhäusern und Arztpraxen und zwischen den diversen Verwaltungsmühlsteinen,
die zwischen Patient und Gesundheit platziert worden sind zum Wohle der
Beschäftigung und eines stetig wachsenden Bruttoinlandsproduktes. Für Arbeit
ist reichlich gesorgt im Krankensystem, und solange man nicht als Arzt oder
Pfleger arbeitet, hat man sicher viel Freude beim Erdenken ständig neuer
Kennziffern, Abrechnungsanforderungen oder Kontrollmechanismen. Gewisse Opfer
müssen da natürlich gebracht werden. In der großen Klinik, die Frau K. aufnahm,
sind nicht nur fast alle Rollstühle defekt und ist nicht nur das Essen, selbstredend,
gesundheitsgefährend, es kümmert überdies auch nur ein einzelner Mann um den
Transport der Kranken von ihren Zimmern zu den Untersuchungen. Ein tapferer,
fleißiger Mann, der allerdings auch nicht zaubern kann. So liegt man dann nach
dem Röntgen schon mal im offenen OP-Kittelchen 3 Stunden am Rand des 15 Grad
kalten Korridors, denn in diesem Stockwerk ist die Klimananlage noch in
Betrieb. (Die Kardiologie hat ihre abgeschaltet, nachdem im Vorjahr ein paar Dutzend
Patienten an mittels dieser Anlage herumventilierten Krankenhauskeimen verstorben
waren).
Am Ende – oder eben zwischendurch – bleibt in diesem
Einzelfall stehen: Die Patientin lebt. Eine Versorgung oder Betreuung erfolgt
nicht, weder durch Krankenhäuser noch durch niedergelassene Ärzte. Der Sozialdienst
kann keine Hilfen schicken, da es keine Hilfen gibt – die Wartelisten sind lang.
Die Patientin ist nicht „reha-fähig“, sie muss zuhause betreut werden. Auf die
Frage, wer helfen könne, lautet die Gegenfrage der zuständigen Beamtin: „Die noch
im Haus lebende Tochter ist 17?“ – „Ja.“ – „Dann kann die ja wohl kochen und
putzen.“
Das ist natürlich richtig. Und natürlich kann der ebenfalls
im Haus lebende Gatte auch mal ein paar Wochen 24/7 als Pfleger tätig sein,
ganz unentgeltlich, wer braucht schon Arbeit, als Künstler, und der Mann ist ja
sogar schon älter als 17, der kann das (Zusatzbemerkungen zum
Gesundheitszustand dieses Pflegers entfallen aus Platzmangel, der Typ ist eh
relativ hart im Nehmen, der wird ja wohl auch so was überstehen).
Dennoch: Ich wiederhole im Rahmen dieser persönlichen
Anekdote meine Einschätzung, dass unser Krankensystem vollkommen falsch
aufgestellt ist und allem möglichen dient, nur nicht der Gesundheit jener, die
versehentlich oder gezwungenermaßen in es hineingeraten. Es gibt keinen
vernünftigen Grund, sich mit einem so kranken System abzufinden, und es ist
(oder wäre) sehr leicht, das System vom Kopf auf die Füße zu stellen. Allerdings
ist dies nur möglich, sofern wir begreifen, dass das Krankensystem der gleichen
Logik folgt wie alle BIP-Wachstumssysteme, in denen wir so gründlich gefangen
sind – eine Reform des Krankensystem ohne eine Reform des Gesamtsystems ist
daher undenkbar. Und zu einer großen Reform fehlt uns in der beginnenden „neuen
Normalität“ mehr denn je der Wille, politisch, sowie das Wissen, ganz allgemein
und ganz überwältigend. (Was darauf hinweist, dass auch unser Staatsschulsystem
bedauerlicherweise seit Jahrzehnten kaputt ist, denn es ist ja jüngst offenkundig
geworden, dass 85% unserer Schulabsolventen nicht lesen, rechnen, schreiben und
nicht eigenständig denken können.)
Womit sich der Kreis vom Persönlichen ins Allgemeine
schließt. Die neuen von unserer auf einer breiten Zustimmungswelle surfenden Regierung
wegen der „Pandemie“ beschlossenen Milliardeninvestitionen ins Krankensystem
werden abermals weder Patienten noch Pflegern noch Ärzten zugute kommen,
sondern vollständig Big Pharma, Big Device, Big Data sowie in beträchtlicher
Höhe den unvermeidlichen Verwaltern, die sich nach Gabe jeder Finanzspritze
unweigerlich vermehren wie Kaninchenviren. 5.000 neue Stellen entstehen allein
in den Gesundheitsämtern, von 5.000 neuen Pflegestellen habe ich nichts gelesen.
Aber für unsere Krankenschwestern haben wir ja auch etwas viel Schöneres als
Geld, nämlich Applaus.
Der kommt von Herzen.
(Und ich trage trotzig weiter Pralinen und Bargeld auf die
Stationen, weil ich aus Erfahrung weiß, dass man sich von Applaus nichts kaufen
kann. Ich hab das probiert, im Rewe, und ich hab wirklich schön geklatscht für
das Sechserpack Faßbrause, das ich haben wollte, genützt hat es mir nichts.)