Fehlender Ordner (im Kopf)

Jaron Lanier hat natürlich recht: Wir sind inzwischen so porentief gehirngewaschen durch unsere permanente DOS-Lebens-und-Arbeitsumgebung, dass wir tatsächlich nur noch in Ordnern denken können. Was in diesem System nirgendwo fehlerfrei hinpasst, wird als störend empfunden und nach kurzer Zeit in die Mülltonne gedrückt – nicht nur auf dem Desktop, auch und erst recht im Leben. Dumm nur, dass gerade dieses Unpassende, Schräge, Unverwechselbare, diese 2%, den Menschen eigentlich ausmachen. Beziehungsweise seine Individualität, denn zu 98% sind wir ja tatsächlich gleich – also problemlos abzulegen in Funktionsordnern. Der wichtigste Ordner aber, der für die schrägen 2%, fehlt leider in unserem Operating System, und wenn wir Glück haben, endet das Ganze lediglich damit, dass wir bis 2030 alle fleißige Chinesen werden. Mit etwas weniger Glück schalten uns die Computer einfach ab.

Aber auch jenseits dieser meinetwegen küchenphilosophischen Bemerkung erweist sich das fest verdrahtete Schubladendenken als ungeheuer störend – nämlich dort, wo es um die Kommunikation der Selbstverständlichkeit geht, dass der erkrankte Mensch keine Maschine ist. Denn das versteht ja inzwischen nicht mal mehr der Kranke. Weil er qua operating system gar nicht mehr in der Lage ist, diesen Gedanken überhaupt zu denken.

Was ich im vergangenen Jahr an Reaktionen auf mein teilweise öffentliches Engagement für MS-Erkrankte erlebt habe, ist natürlich vorwiegend schön: aus dem ganz egoistischen Grund, dass es mir Freude bereitet, anderen zu helfen. Dennoch habe ich die Tiefe oder die Dimension des Schubladendenkens unterschätzt – zum Glück nur zu meinem eigenen Schaden. Festgehalten sei an dieser Stelle dennoch:

a)    Die Welt ist nicht schwarz und weiß, sondern bunt.

b)   Alles Wichtige ist in den Zwischenräumen.

c)    Es gibt keine Magic Bullet, kein Allheilmittel. Weder gegen MS noch gegen Krebs noch gegen Kummer. Es gibt nur personalisierte Bullets und Einzelheilmittel. Siehe die entscheidenden 2%.

d)   Wir erwarten zu viel. Und wissen nicht mal, wieso wir so viel erwarten. Wir wissen nicht mal, dass es viel ist.

e)    Menschen, die anderen unentgeltlich helfen, führen nicht immer etwas Böses im Schilde der verfolgen heimliche Gewinnerzielungsabsichten. Manchmal handeln diese Menschen schlicht ökonomisch unvernünftig. Aber nicht unvernünftig.

f)     Schließen Sie nicht von sich auf andere, wenn Sie einen an der Waffel haben.

g)    Die Zusammenhänge von Erkrankung und Heilung brauchen mehr Platz als eine BILD-Schlagzeile.

h)   Definieren Sie „Heilung“. Einen im Sinn, als Basislager: „Heilung zu erlernen heißt, den Widerspruch zu erkennen zwischen der Hoffnung eines Tages und dem Scheitern, am Ende. Ohne Nein zu sagen zur Hoffnung des Tages. Intelligenz oder Einfalt?“ (Georges Canguilhem).

Und, doch, ja, ich bitte dringend von weiteren Anfragen entlang der Dumpfbackenlinie „Todkranker spielt wieder Tennis“ abzusehen. Ich verzichte wie gehabt gern auf Öffentlichkeit im Wert von „1 Mio. Kontakte pro Woche“ und bin auf allen Ohren taub für Bemerkungen wie „Das verkauft aber Ihre Bücher!“

Das Zauberwort ist und bleibt: „Weglassen!“

Und ich bin sehr einverstanden, sofern Sie – bei Bedarf und Interesse – mit dem neuen Buch  vorlieb nehmen und ganz entschieden ganz und gar weglassen: den Autor.

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3 Antworten zu Fehlender Ordner (im Kopf)

  1. Hilde sagt:

    Nach meiner Diagnose vor einem Jahr, mit genau diesem von Ihnen schon beschriebenen Stapel Hochglanzprospekte (sehr wertig und schick aufgemacht) der verschiedenen Pharmafirmen im Gepäck, mit dem einzigen Gedanken im Kopf, was ich davon wählen solle, um es mir bald irgendwohin zu spritzen, bin ich bei der Informationssuche schnell über „MS für Anfänger“ und andere im neuen Buch genannte Autoren gestolpert.
    So kam ich zum WEGLASSEN – meiner selbstgestrickten „Basistherapie“.
    Ein DANKE für die Idee der Option des Weglassens lasse ich hiermit nicht weg.
    Hilde

    • Ines sagt:

      Also ich für meinen Teil möchte weder das wundervolle und lehrreiche Buch, noch das Kennenlernen des ebenso smarten Autors weglassen. 😉 Bin froh, Dich „entdeckt“ und mehr oder weniger kennengelernt zu haben. Vielleicht werden wir uns „später“ mal live treffen.
      Danke, lieber Sven.
      Heilende Grüße
      Ines Geister 🙂

  2. Axel Ulber sagt:

    Als quasi Mitgehangener und genauer Beobachter der Welt halte ich Sie keineswegs für einen für-eine-Handvoll-Dollar-um-Mitleid-Quieker. Die sind – noch, hargharghargh!- kerngesund und spekulieren mit anderen Themen auf öffentliche Gelder, weil Politik und sozial und wichtig und bla.

    MS ist -Wortwahl (Brief an die Eltern!)- eine Wichsvorlage für die Pharmaindustrie. Indifferentes Krankheitsbild; hier hilft was, da nicht, schwierig, schwierig. Im Kern erinnert das alles an die Akademie der Automechaniker, die alle nach dem Blick in die Motorhaube erst mal ein „Ouwuouwou!“ äußern lernen.

    Zu f) empfehle ich dringendst DEADPOOL Killustrated.

    Grüße an Hilde und Ines ( wir habens, nicht die).

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